Monday, 25 April 2011

Wastwater

[English version here]


Debussy hat einmal gesagt "Musik ist der Raum zwischen den Noten".

Ähnlich funktioniert Simon Stephens Stück Wastwater. Durch Ungesagtes, durch Auslassungen in und zwischen drei nur teilweise miteinander verbundenen Dialogen zeichnet es ein detailiertes Bild von der Welt. Simon Stephens benutzt in Wastwater Zweideutigkeiten als wären sie ein Teil der Besetzung.

Das Stück besteht aus drei Dialogen an drei voneinander unabhängigen Orten. In allen drei Fällen handelt es sich um Dialoge zwischen einem Mann und einer Frau. In allen drei Fällen geht es für den Zuschauer darum, herauszufinden, wer die Figuren sind: zunächst im Kontext der Situation - wie sie zueinander stehen - später dann im Kontext zu den anderen Figuren des Texts.

Im ersten Teil des Stücks spielen Linda Basset und Tom Sturridge Frieda und Harry: eine liebende, ängstliche ältere Frau und einen nervösen, zerfahrenen jungen Mann. Es könnte sich um eine Lehrerin und einen Schüler handeln, eine Mutter mit ihrem Sohn, um ein Liebespaar. Diese Unsicherheit führt beim Zuschauen zu einem starken Fokus auf Details. Nachdem Harry über ihre lange gemeinsame Vorgeschichte berichtet, sagt er zu Frieda: "Du hast wahrscheinlich schon davon gehört, oder? Es ist bestimmt in meiner Akte." Und wieder ist man verunsichert - ist sie eine besonders chaotische Bewährungshelferin? Nach und nach wird klar, dass es sich bei Frieda um Harrys Pflegemutter handelt; dabei spielen alle anderen möglichen Verhältnisse, die man als Zuschauer im Kopf durchgespielt hat, auch eine Rolle.

Diese Art von Unklarheit ist zentral für das Stück und für die Inszenierung . Selbst die Verortung ist unsicher: Lizzie Clachlans erster von drei großartigen Bühnenräumen sieht aus wie eine alte Sternwarte aus Holz und Glas oder wie der Wintergarten eines großen Familienhauses; sie ist zugewachsen und Frieda sagt, dass sie über einen Zaun klettern musste "um hier rein zu kommen". Wir erfahren, dass das Haus in der dem Dorf liegt, das zerstört worden wäre, wenn man Heathrows dritte Landebahn gebaut hätte. Von Zeit zu Zeit wird der Dialog von vorbeifliegenden Flugzeugen unterbrochen.

Die zweite Szene erforscht eine andere Art von Spannung und Unsicherheit. Mark und Lisa (Paul Ready und Jo McInnes) treffen sich in einem Hotel bei Heathrow und es ist dem Zuschauer sofort klar, warum. Die einzige Frage bleibt, ob die beiden es schaffen, das miteinander zu tun, wozu sie sich getroffen haben. Man erfährt nicht, wie die beiden sich kennengelernt haben und wie ihr Weg in das Hotelzimmer verlief, der Fokus der Szene liegt auf etwas anderem. Man folgt einem Duell zwischen Marks Nerven (teilweise leicht überspielt von Paul Ready) und Lisas Drang nach ständiger Selbstentblössung, immer gefolgt von Angeboten an Mark, wieder zu gehen: "Falls du jetzt gehen möchtest, macht es mir nichts aus.", "Bist du angeekelt? Möchtest du nach Hause gehen?", "Habe ich dich erschreckt?". Wieder wird die Handlung von vorbeifliegenden Flugzeugen unterbrochen.

Die dritte Szene ist die beunruhigenste. Sie spielt in einem Lagerhaus, wieder in der Nähe des Heathrower Flughafens, wo Jonathan (Angus Wright) mit Siân (Amanda Hale) verabredet ist. Die Beziehung zwischen den beiden ist die unklarste von allen. Siâns koketter erster Satz "Gefällt Dir mein Kleid?" ist missverständlich: vielleicht ist er ein Mitvierziger, der sich mit einer Prostituierten trifft. Die darauffolgende Veränderung ihres Benehmens - sie wird einschüchternd, nachbohrend - scheint zu einer leicht psychotischen Geheimdienstbeamtin zu passen oder zur einer Frau, die Selbstjustiz übt. Es wird klar, dass Jonathan etwas Schlimmes getan haben muss. Etwas sehr Schlimmes. Etwas, das mit Kindern und dem Internet zu tun hat. Er hat Angst vor ihr und sie genießt es, ihn mit ihrer Macht und seiner Angst einzuschüchtern. Lange scheint es wahrscheinlich, dass er mit einer Art Pädophilie-Ring zu tun hat. Alles an seinem Benehmen und ihren Reaktionen auf ihn deuten darauf hin. Am Ende stellt sich heraus, dass Jonathan eine große Summe Geld gezahlt hat, um illegal ein Kind aus Fernost zu adoptieren. Die Umstände werden nicht weiter erklärt.

Da wir soviel Zeit damit verbringen, zu denken, dass es in der Szene um Kindesmissbrauch geht, um Kindesentführung und das Internet, geht es in der Szene auch genau darum. Die Tatsache, dass die Szene am Ende von einer Adoption erzählt, löscht nicht das aus, was am Anfang ihr Kern zu sein schien. Das Spiel des Texts mit unseren Synapsen ist in vollem Gang. Details kehren wieder, Motive tauchen wiederholt auf, subtil verändert oder gespiegelt. Harrys Hose, die "ein wenig nach Pisse riecht" wird zu Jonathan, der sich "in die Hose macht". Friedas unschuldige Drohung "das Internet zu befragen" und "durch deine Nachrichten zu gehen" wird zu Siâns erschreckend genauer Beschreibung von Jonathans Handlungen, bei der sie jede einzelne Kreditkartentransaktion, jede Benutzung seiner Ubahnkarte, jeden Click im Internet aufzählt. Sogar Lisas Beschreibung von Wastwater: "Der tiefste See hier. Er ist schrecklich ruhig. Mein Vater hat mir gesagt, seine Ruhe sei eine Lüge. 'Er sieht ruhig aus, Lisa, aber du solltest sehen, wie viele Leichen auf seinem Grund liegen'." wird gespiegelt in Siâns späterer Erzählung über das Ertränken eines Hundes eines Pflegeonkels in einem Brunnen.

Diese Resonanzen erinnern uns ständig an die vorherigen Szenen und geben dem Text als Ganzes sein wahres Gewicht. Durch sie und durch die Verbindungen der Figuren untereinander beschwört das Stück die Riesigkeit der restlichen Welt: Siân ist ein weiteres von Friedas Pflegekindern, Jonathan ist der Lehrer, der einmal Mark geschlagen hat, Harry war in einem Auto mit dem berühmten Gavin Berkshire, einem von Marks Schülern, als dieser starb. Dadurch, dass diese Zusammentreffen so kurz und elliptisch sind, dadurch, dass die Verbindungen zwischen den Figuren so wahllos und zufällig scheinen, vermittelt das Stück einen Eindruck von der Masse an Menschen auf diesem Planeten.

Der Text benennt, davon abgesehen, eine große Menge an Orten außerhalb von Heathrow*.
Trotz der minutiös genauen Bühnenräume lässt die Menge an Informationen und Beschreibungen Wastwater streckenweise wie ein Hörspiel wirken - die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird fortwährend auf andere Orte gelenkt als den Ort, den man anschaut; man ist angehalten, sich vorzustellen, was die Figuren beschreiben. Kombiniert mit der Unsicherheit darüber, wer genau sich in den Räumen des Stücks befindet, trägt diese Tatsache dazu bei, dass die Welt außerhalb der Räume des Stücks riesig wirkt.

Das, was im Stück benannt wird, folgt einem präzisen Muster. Wastwater ist ein sehr genau konstruierter Text. Die Szenen bauen auf einander auf, wie Echos. Jede Szene beschreibt einen Mann, der sich einer Frau entzieht. Nach und nach werden die Männer älter, die Frauen jünger. Mit jeder Szene entfernen wir uns weiter von der Natur und natürlichem Licht. In jeder Szene geht es ums Abschiednehmen: von Frieda, die nicht will, dass Harry wegzieht, zu Lisa, die Mark vorschlägt, wieder zu gehen zu Siân, die Jonathan verbietet, den Raum zu verlassen. Es gibt sogar eine sehr kurze vierte Szene, zwischen Jonathan und seiner frisch importierten Tochter Dalisay (sie, die jüngste der weiblichen Figuren, er, sogar noch gealtert durch die vorherige Begegnung), in der keiner aufstehen und gehen, geschweige denn sich bewegen kann.

In jeder Szene werden Entscheidungen und Konsequenten diskutiert, vielleicht liegt hier das Hauptinteresse des Stücks: die Frage danach, wie die Entscheidungen, die wir treffen, die Welt formen und zerstören. Harry beschäftigt die Aufgabe der Jagd zugunsten der Landwirtschaft: "Keine der großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte wäre passiert, wenn wir uns nicht für die Landwirtschaft entschieden hätten", Lisa wiederum sagt: "Du triffst eine Entscheidung. Sie bleibt bei dir. Ein bisschen so, als ob ihre Konsequenzen sich in deine Knochen einschreiben."

Selbst die Benennungen von Orten und Dingen summieren sich. Hier geht es nicht um wahllose Beschreibungen von Details. Ohne je einen einzigen Wissenschaftler oder Eisbären auftreten zu lassen, hat Simon Stephens mit Wastwater das bis dato beste Stück über Klimawandel geschrieben; ein Stück über Globalisierung, über die Welt, in der wir unsere Kinder aufwachsen lassen, über unsere persönlichen und politischen Lebensumstände. All das mit beneidenswert leichter Hand. Am Ende ist man beinahe erschöpft davon, was man sich alles vorstellen musste und gleichzeitig aufgekratzt von der Anstrengung. Was nicht sagen soll, dass es sich um ein fröhliches Stück handelt. Die letzte Szene funktioniert wie eine Art Adrenalinkick, allerdings ist sie keineswegs beschwingt. Sie beschreibt eine Welt von verlassenen Kindern, Pflegefamilien, Sozialarbeitern, Heroinsucht und Internetpornographie, addiert ein ganzes Spektrum von Pädophilie und Kindeshandel: man schaut zu und wartet die ganze Zeit über darauf, dass etwas unglaublich Gewalttätiges geschieht.

Katie Mitchells Inszenierung ist ihre geradlinigste seit den Trojanerinnen. Alles ist naturalistisch gespielt und inszeniert, ohne Videokameras und Szenenwechsel, die scheinbar von Forensikern durchgeführt werden; die Handlung spielt in Räumen, die genauso aussehen, wie die Räume, die in den Regieanweisungen beschrieben werden.

Im Kontext dieses Naturalismus sind gerade Mitchells gelegentliche Abweichungen von ihm am Interessantesten. Immer wenn Flugzeuge auftauchen, hören die Figuren auf, zu sprechen und die gesamte Beleuchtung ändert sich: das Bühnenlicht wird gedämpft und ändert seine Farbe. Es gibt außerdem zwei fast tanztheaterhafte Augenblicke. In beiden Fällen geht es um allein gelassene Männer: Mark, der in Zeitlupe auf ein Bett fällt und Jonathan, der sehr langsam seine Hand ausstreckt. All diese Momente geben der Inszenierung eine Ebene von Fremdartigkeit, als ginge es, neben den einfachen Ängsten Sterblicher davor, dass wir unsere Luft mit Abgasen verpesten und dass Fremde unsere Kinder missbrauchen, noch um etwas anderes. Beziehungsweise werden diese Ängste in kurzen Momenten ganz klar greifbar.

Die Schauspielarbeit bewegt sich zwischen Stilisierung und Naturalismus, in einer Art kondensiertem Naturalismus, Hypernaturalismus vielleicht, so dass die Handlung immer etwas zu scharf, das Benehmen der Figuren immer etwas zu klar wirkt; an manchen Stellen maniriert. Die erste Szene, in der Bassett und Sturridge sich unterhalten, wird durch ein ständiges gegenseitiges Sich-in-den-Arm-Nehmen unterbrochen, durch ständiges Sich-Anfassen, Sich-Spiegeln in den Bewegungen des Anderen. Die zweite Szene wiederum zeigt Ready bei einer Variation dieses Motivs: er kratzt sich ohne Unterlass - ein Ekzem, wie seine Figur erklärt - am Hinterkopf, während McInnes körperlich ruhig ist. Im dritten Teil ist Angus Wrights Figur so zappelig, dass es zu einem Konversationsthema wird, während Amanda Hales Siân vergleichsweise gelassen bleibt.

Die szenische Handlung passt bemerkenswert gut zum Text. Man nimmt sie kaum bewusst war, dennoch erdet sie die Struktur des Stücks. In den ersten zwei Teilen von Wastwater singen Figuren den Anfang von La Habanera aus Bizets Carmen, im dritten Teil wiederum wird Messiaens "Musik für das Ende der Zeit" [sic] falsch zitiert (tatsächlich heißt das Stück Quartett für das Ende der Zeit). In Simon Stephens Stücken ist die Musik immer ein Hinweis auf die allgemeine Grundlaune. Während die Habanera spielerisch die Liebe als Vogel beschreibt, der Menschen das Herz stiehlt, ist der Grundton von Messiaens modernistischer Musik, die während der Haftzeit des Komponisten in Polen während des zweiten Weltkriegs entstand, ein gebrochener, erschöpfter. Eine weitere wichtige Referenz in Wastwater ist ein Zitat aus Dickens Großen Erwartungen, durch Lisa, kurz vor Ende der Hotelszene: “Der Himmel weiß, dass wir uns nie unserer Tränen schämen müssen. Sie sind der Regen, der auf den blind machenden Staub der Erde fällt, der unsere harten Herzen bedeckt."

Wastwater entwirft ein komplexes, menschliches, besorgtes Bild der Welt. Es beschreibt Politisches durch menschliche Beziehungen auf die beste mögliche Weise. Es zeigt uns nicht nur den Zustand der Nation, sondern auch den Zustand des Planeten. Wastwater tut all das durch Bilder, die mitreißend und aufregend sind und die, zusammen genommen, viel mehr bieten als eine einfache Summe der Einzelteile. Das Stück zeigt eine eng gewobene Decke von Referenzpunkten, die weiter nachhallen. Es zeigt uns ein moralisches Universum, in dem individuelle Entscheidungen Konsequenzen haben, ein Universum, in dem Entscheidung in unseren Knochen weiterleben. Wastwater beschreibt die undarstellbare Riesigkeit der Welt und gleichzeitig die vergleichsweise winzigen Leben in ihr; das Stück zeigt, wie kleine, fragmentarische Momente unvorhergesehene, unvorstellbare, unbekannte Nachwirkungen haben können, die sich von ihren Ursachen entfernen wie ein Netz von Rissen auf einer zerbrochenen Glasscheibe.

Es ist schwer zu sagen, was man mehr wollen könnte von einem Kunstwerk.

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*Sipson, Middlessex; Surrey, Kanada; Neuseeland; Asien; Südamerika; Minneapolis, Amerika; Stansted Flughafen, Essex; Epping Forest; Lancaster; Wastwater, der Lake District; das Holiday Inn in Derby; Swansea; der Charles de Gaulle Flughafen; Cebu auf den Philippinen; die Islington Filiale der Co-Operative Bank an der Ecke von Upper Street und Pentonville Road; Halfords auf der Liverpool Road; Oddbins auf dem Weg zur Holborn Ubahnstation; die Archway Ubahnstation; Seattle; Inverness; München; Salzburg, Warrington, Manchester; Teile der Elfenbeinküste; die Itury Region in der Demokratischen Republik Kongo; Port-au-Prince, Haiti; Kirgistan und die Seitenstraßen der Hauptstädte Lateinamerikas.

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